Sächsischer Stammesadel

Gemälde: Otto Knille. Text: Plinius Secundus, Naturalis Historia XVI, 4. Graffiti: Ein Barbar.
Gemälde: Otto Knille. Text: Plinius Secundus, Naturalis Historia XVI, 4. Graffiti: Ein Barbar.

Mündliche Überlieferungen sind eine alte Kulturtechnik. Sie waren in Zeiten, als man Bücher entweder noch nicht herstellen oder nicht wirksam vor Schimmel, Würmern und Mäusen schützen konnte, das übliche Mittel, um Informationen an andere Personen weiterzuvermitteln. Die Technik ist unabhängig von der Konfession ihres Benutzers. Man findet daher Personen mit mündlichen Überlieferungen in allen Kulturen. Auch das Christentum kennt grundsätzlich die Technik der mündlichen Überlieferung, denn wichtige Teile der Bibel wurden mündlich weitergegeben, bevor sie jemand schriftlich aufzeichnete. Trotzdem ordnete die Kirche die Benutzung mündlicher Texte als Heidentum ein und bekämpfte die Texte und ihre Besitzer.

 

Um zu verstehen, wo im Mittelalter ehemaliger sächsischer Stammesadel zu finden war, muß man sich das System mit den Curien ansehen. Widukind von Corvey erklärt es in der Sachsengeschichte Buch I Kapitel 35:

„Zuerst wählte er (König Heinrich I) unter den bäuerlichen Kriegern jeden neunten Mann aus und ließ ihn in den Burgen wohnen, damit er hier für seine acht Genossen Wohnungen errichte und von allen Früchten den dritten Teil empfange und verwahre. Die acht übrigen sollten säen und ernten und die Früchte sammeln für den Neunten und dieselben an ihrem Platze aufheben. Er gebot, daß die Gerichtstage und alle Märkte und Gastmähler in den Burgen abgehalten würden.“

 

Unter einer Curie ist ein Hofgut zu verstehen, das wird von einem Ritter bewohnt und ist der Verwaltungssitz des betreffenden Bezirks. Zu der Curie gehören sogenannte Villen, Landgüter, die liefern ihre Abgaben an ihre Curie, und daraus werden die Auslagen des Ritters bezahlt. Dazu gehört insbesondere die standesgemäße Hofhaltung, Aufwendungen für Gerichts- und Versammlungstage, die der Inhaber der Curie ausrichtete, Reisekosten zu Gerichtstagen, an denen er teilnehmen mußte, Heerfahrten, Wegebau und die Vergütung der Beamten.

 

Zum ehemaligen sächsischen Stammesadel gehörten somit die Curialen als Ritter und alle ranghöheren Landesherren, Grafen, Herzöge und Könige. Außerdem kann man die Villicalen hinzuzählen, weil sie ebenfalls Freiheitsrechte besaßen. Es waren nicht alle Personen, die derartige Stellungen innehatten, ehemaliger Stammesadel. Auch Ministeriale hatten im späten Mittelalter Stellungen als Grafen, Curiale, Villicale oder deren Verwalter. Vielmehr gilt umgekehrt, wenn man ehemaligen Stammesadel sucht, dann findet man ihn in dieser Personengruppe.

 

Eine Hochrechnung, wieviele ehemals edelfreie und freie Familien noch in Deutschland leben könnten, ergibt folgendes: Im Mittelalter waren die Herzogtümer eingeteilt in sogenannte Gaue, das sind die späteren Grafschaften. Laut Wikipedia gab es im Mittelalter etwa 387 Gaue in ungefähr dem Gebiet, das heute Deutschland ist. Das ergibt bei insgesamt 5 Herzogtümern durchschnittlich 77 Gaue bzw. Grafschaften pro Herzogtum. Die Zahl erscheint mir plausibel. Pro Grafschaft rechne ich mit 3 bis 5 Curien, also im Durchschnitt 4. Multipliziert mit der Anzahl der Grafschaften erhält man 1548 Curien bzw. Ritter. Pro Curie werden laut Widukind insgesamt 9 Gutshöfe gerechnet, von denen der eine Curialer und die 8 anderen Villicale sind. Das ergibt zusammen 13932 Curiale und Villicale. Rechnet man die Grafen hinzu, dann erhält man 14319 Familien. Ferner sind seit dem Mittelalter zahlreiche Familien aus dem Ausland hinzugekommen, die ebenfalls mündliche Überlieferungen pflegen.